„Ein Zufall ist erst einmal ein Ereignis, was stattfinden kann, aber nicht muss“, erklärt sie. „Um es zu berechnen, schaue ich alle Ereignisse, die ich gerade beobachte, an, messe dann die für den Zufall günstigen Ereignisse und teile sie durch das Maß aller Ereignisse.“ Rüdiger erklärt es am Beispiel des Würfels. „Wenn ich einen nicht gezinkten Würfel werfe, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine gerade Zahl erscheint 3:6, weil es drei von sechs günstigen Möglichkeiten gibt.“ Aber nicht alles sei zählbar, fährt sie fort und verweist auf die Möglichkeiten, die z. B. ein Bogenschütze habe, wenn er seinen Pfeil auf eine Zielscheibe richte. Es hänge immer von den Qualitäten des Schützen ab, denn wenn dieser geübt sei, könne man dies anhand einer Wahrscheinlichkeitsverteilung, der sogenannten Gauß-Kurve, die eine Form einer Glocke hat, sehr gut beschreiben. „Je besser dieser Schütze ist, umso enger die Glockenkurve, je schlechter er ist, desto breiter die Glockenkurve.“
Die Wahrscheinlichkeitstheorie oder Probabilistik ist ein Teilgebiet der Stochastik und findet eigentlich überall Anwendung. „Alles, was deterministisch ist, also, zukünftige Ereignisse, die durch Vorbedingungen eindeutig festgelegt sind, können wir ohne Zufall mit der Analysis ganz genau berechnen. Das hängt von Erhaltungssätzen oder Erhaltungseigenschaften ab, die aber immer nur lokal und auf kurze Zeit da sind.“ Alles was wir betrachten, formuliert die Wissenschaftlerin, hinge immer von der Umgebung ab und wenn diese sich ändere, änderten sich auch die Ereignisse. Am Beispiel des Autofahrens könne man dies sehr gut sehen. „Wenn ich ein Auto lenke und möchte konstant 100 Stundenkilometer fahren, kann ich das solange tun, bis ein Auto vor oder hinter mir mich zwingt, langsamer oder schneller zu fahren. Das hängt nicht nur von dem Erhaltungssatz, den ich mir selber vorgenommen habe ab. Die ganze Umgebung wird immer so wirken, dass sie uns zwingt, plötzlich Änderungen vorzunehmen. Und diese Änderungen sind sehr vielfältig, weil wir von vielen Phänomenen umgeben sind. Der Zufall spielt also immer eine Rolle.“
„Jeder Ingenieur, alle Banken und Versicherungen nutzen den Zufall“, sagt Rüdiger und das begann im Wirtschaftsbereich vor ca. 100 Jahren durch Louis Bachelier, den Gründer der Finanzmathematik. „Er hat als erster verstanden: Um ein Wertpapier zu beschreiben, muss ich den Zufall benutzen.“ Und das tut er, indem er ein Wertpapier anhand der sogenannten Brown‘schen Bewegung beschreibt. Diese wiederum entdeckte der schottische Botaniker Robert Brown 1827. Unter dem Mikroskop sah er unregelmäßige und ruckartige Wärmebewegungen kleiner Teilchen in Flüssigkeiten und Gasen, die also die Richtung wechselten. Der Physiker Ludwig Boltzmann war dann einige Jahre später der, der die Bewegung der Moleküle als zufällig beschrieb. „Boltzmann hat auch die Entropie als Konzept für ein Maß dieser Unordnung mikroskopisch verstanden, denn dieses Konzept beruht auf Chaos.“ Jeder moderne Ingenieur, der sich mit Thermodynamik beschäftige, müsse diese Entropie, also das Maß aller Unwissenheit, berücksichtigen. Rüdiger selbst pflegt seit Jahren einen regelmäßigen Austausch mit einem Forschungsteam der Debeka-Versicherung, das immer wieder Zufallsprozesse untersucht.
Die Wahrscheinlichkeit des Lottogewinns
Der Zufall konnte schon oft dem einen oder der anderen zu ungeahntem Reichtum verhelfen. Können mathematische Berechnungen vielleicht sogar das Glück beeinflussen? „Ich sage mal, dass die Bachelorstudierenden, die unsere Einführung Stochastik gehört haben, in der Lage sein sollten, zu wissen, wie groß die Gewinnchancen beim Lotto sind“, sagt die gebürtige Italienerin lachend. Zwar sei die Gewinnchance durch die festgelegte Anzahl der 49 Kugeln mit einer Wahrscheinlichkeit zu berechnen, die auch nicht Null sei, aber eine Null vor und viele, viele Nullen hinter dem Komma habe. Beim Roulette sehe es schon wieder anders aus, denn mit der Kugel käme eine Dynamik ins Spiel, die vom Wurf des jeweiligen Croupiers abhänge und vielfach nicht zu berechnen sei.
„Jede Krise bringt eine Änderung in den Modellen mit sich“, sagt Rüdiger, wobei es noch zu früh sei, die Folgen der Pandemie jetzt schon zu bestimmen. Aber durch die Finanzkrise 2007 habe man zum Beispiel schon Erkenntnisse gewonnen, die man auch auf andere Krisen anwenden könne. In Bezug auf Wertpapiere konnte man feststellen, „dass sie innerhalb der Krise auf einmal anfangen, Sprünge zu machen, sowohl nach oben als auch nach unten. Das heißt, die ganze Modellierung muss dann geändert werden“, erklärt sie. Auch in der Risikoberechnung von Banken, Versicherungen und Immobiliengesellschaften, die oft auch in Abhängigkeit existierten, verändere eine Krise nahezu alles. „Der Immobilienmarkt bricht also zusammen und das Risiko, dass das geschieht, impliziert den Zusammenbruch der Versicherungen und damit auch der Banken. Seit 2007 untersucht man diese Risiken nicht mehr alleine, sondern indem man sie gemeinsam in den Abhängigkeiten modelliert.“ Dazu entwickele man neue Modelle, wie die sogenannten Delay-Gleichungen, die sehr kompliziert seien, da sie den Zufallsprozess nicht mehr nur zukünftig, sondern auch von der Vergangenheit abhängig machten.
Auch der Aktienmarkt arbeitet mit Zufällen, Anleger müssen risikobereiter, aber auch umfassender informiert sein. „Da muss man viele Informationen haben, die nicht nur von der Mathematik abhängen“, weiß die Wissenschaftlerin und steht dieser Finanzbranche kritisch gegenüber. Den Zufall will sie in diesem Bereich so gering wie möglich halten und erklärt ihre Skepsis an einem Beispiel: „Nehmen wir an, ich hätte den größten Diamanten der Welt. Nun sage ich, ich teile ihn formal in hundert Teile und bin bereit, vierzig Teile davon an verschiedene andere Leute zu einem guten Preis zu verkaufen. Allerdings verliert der Diamant an Wert, wenn ich ihn physisch teile. Daher bleibt er in meinem Safe. Und jetzt frage ich, wer ist bereit, einen Teil davon zu kaufen, denn wenn einer der anderen Käufer in eine Schieflage gerät und unter Wert verkauft, haben die anderen Anteilbesitzer ein Problem!“
Investitionen in Abhängigkeiten verhalten sich ähnlich wie Wahrscheinlichkeiten zu Ereignissen, der zu berechnende Zufall kann immer sowohl in positiver, als auch in negativer Richtung ausschlagen.
Uwe Blass
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Prof. Dr. Barbara Rüdiger studierte Mathematik an den Universitäten La Sapienza und Tor Vergata in Rom. In Deutschland arbeitete sie zunächst mit verschiedenen Stipendien unter Prof. Dr. Sergio Albeverio in Bochum und Bonn. Danach erhielt sie eine Juniorprofessur an der Universität Koblenz-Landau und bewarb sich von dort auf eine ordentliche Professur in Wuppertal. Hier leitet sie in der Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften seit 2009 die Abteilung Stochastik.