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Wohin treibt Europa?

Nach dem Nein der Franzosen und Niederländer zur EU-Verfassung: Einschätzungen und Prognosen von Experten der Bergischen Universität

 

Das Nein der Franzosen und Niederländer zur Europäischen Verfassung hat der europäischen politischen Integration einen schweren Rückschlag versetzt. Wir haben dazu fünf Europa-Experten der Bergischen Universität um Statements gebeten. Es nehmen Stellung: Der Ökonom Prof. Dr. Paul J.J. Welfens, der Öffentlichrechtler Prof. Dr. Dr. Bernhard Losch, der Historiker Prof. Dr. Franz Knipping und die beiden Politikwissenschaftler Prof. Dr. Hans J. Lietzmann und Prof. Dr. Volker Ronge.

Prof. Dr.
Paul J.J. Welfens
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Prof. Dr. Paul J.J. Welfens ist Wirtschaftswissenschaftler mit dem Schwerpunkt Makroökonomische Theorie und Politik und Präsident des Europäischen Instituts für Internationale Wirtschaftsbeziehungen; er hat eine nach dem berühmten Gründervater der Europäischen Integration, Jean Monnet, benannte EU-Professur inne. Sein Statement: Ist die gescheiterte Verfassung der Auftakt zum EU-Zerfall? Es bleibt der Vertrag von Nizza Handlungsgrundlage: Die EU wird schwerfällig, interne Konflikte sind vorgezeichnet. Die EU hat einen Blick in den Abgrund gemacht: Die Gemeinschaft ist latent instabil, die EU könnte binnen eines Jahrzehntes zerfallen, zuerst die Eurozone, dann würde der Binnenmarkt in Frage stehen, wo unter dem Druck voller Freizügigkeit ab 2011 massiv verschärfte Arbeitsmarktprobleme in den Kernländern Deutschland, Frankreich und Italien drohen. Europa könnte in Nationalismus und gefährliche Machtkonkurrenz zurückfallen, wobei sich Deutschland im Wettlauf mit Frankreich und Großbritannien eine europäische Einfluss-Sphäre sichern würde. Die Rückkehr ins 19. Jahrhundert ist nicht undenkbar.

Ungescheite Politik vor allem in Deutschland und Frankreich, aber auch falsche Weichenstellungen in Brüssel haben das Scheitern herbeigeführt: Ein technokratischer Stil der Politik, der gerade auch in Deutschland sichtbar ist, wo man nach überschaubarer Parlamentsdebatte mit großer Mehrheit die EU-Verfassung verabschiedete; hier wäre eine Volksbefragung sinnvoll gewesen, hätte dies doch die Politik gezwungen, die Verfassungstexte den Bürgern zugänglich zu machen. Am Beispiel Niederlande, wo 85% des Parlaments für die Verfassung waren, während 62% der Wähler dagegen stimmten, kann man sehen, wie unverzichtbar Volksabstimmungen für die Demokratie sein können.

Vollständige Analyse unter www.econ-international.net

Kontakt:
Prof. Dr. Paul J.J. Welfens
Telefon 0202/439-3171
Homepage


Prof. Dr. Dr.
Bernhard Losch
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Prof. Dr. Dr. Bernhard Losch ist Jurist mit dem Schwerpunkt Öffentliches Recht und hat sich in wissenschaftlichen Veröffentlichungen u.a. auch mit den Europäischen Grundrechten als Integrationsfaktor, mit der sozialen Verfassungsaufgabe der Europäischen Union und mit dem Grundrechtskatalog für die Europäische Union befasst. Sein Statement: Die Verfassung kann nicht in Kraft treten, wenn sie nicht von sämtlichen Mitgliedsaaten ratifiziert wird. Daher hat sich das Ratifizierungsverfahren erledigt. Zunächst heißt das, dass die Europäische Union auf der Grundlage der vorhandenen Gründungsverträge weiter besteht. Zum einen könnte vorerst alles beim Alten bleiben. Zum anderen könnten die Gründungsverträge fortgeschrieben werden. Zum dritten könnte die neue Verfassung überarbeitet und erneut zur Ratifikation vorgelegt werden. Wenig wahrscheinlich ist, dass die neue Verfassung unverändert noch einmal zur Ratifizierung angeboten wird.

In der jetzigen Situation, könnten sich einige Staaten enger als die anderen zusammenschließen und die Rolle als Kern-Europa übernehmen. Die augenblickliche Lage bedeutet eine nicht unvernünftige Denkpause.

Kontakt:
Prof. Dr. Dr. Bernhard Losch
Telefon 0202/439-2281, -2285
Homepage
 

Rektor
Prof. Dr.
Volker Ronge
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Prof. Dr. Dr.h.c. Volker Ronge ist Soziologe und Politikwissenschaftler; die Europäische Integration gehört zu seinen Schwerpunkten (Veröffentlichung u.a. "Europa von innen und außen. Universalität und Partikularität", Trier 2001). Hier sein Statement: Non, nee, no - NEIN = Ende der political correctness betreffs Europa. Wie sehr der Europa-Gedanke durch die Art seiner Umsetzung in politisch-administrative Wirklichkeit kaputtgeritten ist, zeigt sich besonders deutlich an den bornierten Durchhalte-Reaktionen gerade auch deutscher Politiker - Reaktionen, die durch ihre Konsterniertheit über das Unfassliche nicht befriedigend zu rechtfertigen sind. Ein niederländischer Journalist schrieb treffend: "Lange Zeit wurde die Debatte über die EU von EU-Enthusiasten dominiert. Wer diese Begeisterung nicht teilte, hatte den Mund zu halten. Nun haben alle, denen jahrelang das Mitreden verboten wurde, gesprochen."

Political correctness tabuisierte eine EU-Entwicklung, die dem Wahlvolk entfremdete Parlamentarier, eine geradezu abenteuerliche Bürokratisierung, eine entfesselte Wettbewerbsideologie und -politik, schließlich die geografische Entgrenzung Europas ins Uferlose hervorgebracht hat. In Deutschland konnte sich das Wahlvolk nicht wehren, in Frankreich und Holland konnte man sehen, wie das Wahlvolk denkt – in Deutschland m. E. schon lange ganz ähnlich wie dort.

Unsere Politiker haben keine Ahnung von dem, was für "nation-building" und "state-building" erforderlich ist. Auf dieser Ignoranz-Grundlage durften sie frei handeln - bis jetzt. Selbst jetzt wissen sie nicht mehr zu sagen als: Weiter so wie bisher. Die Reflexionspause wird uns gut tun – hoffentlich.

Kontakt:
Prof. Dr. Volker Ronge
Telefon 0202/439-2223, -2224
 

Prof. Dr.
Franz Knipping
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Prof. Dr. Franz Knipping ist Historiker mit dem Schwerpunkt Neuere und Neueste Geschichte, sein besonderes Fachgebiet ist die Europäische Integration (letzte Veröffentlichung "Rom, 25. März 1997. Die Einigung Europas", München 2004). Wie Prof. Dr. Welfens hat er an der Bergischen Universität eine Jean-Monnet-Professur inne. Sein Statement: Das Scheitern ist ein schwerer Rückschlag. Das Ziel, die EU mit ihren 25 Mitgliedsstaaten zu einer handlungsfähigen politischen Einheit fortzuentwickeln, dürfte vorerst kaum realisierbar sein. Völlig überraschen kann die Entwicklung nicht. Auch wohlwollende Beobachter konstatieren seit einiger Zeit, dass die EG, die zwischen 1957 und 1990 in überschaubaren Schritten organisch zusammengewachsen war, seither durch ungebührliche Beschleunigung und eine Maßlosigkeit der Ambitionen gekennzeichnet ist.

Die "Groß-Erweiterung" um zehn neue Mitglieder und die Rückwirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft haben deren Bevölkerungen überfordert. "Brüssel" wird als gesichtslose Bürokratie wahrgenommen, die nach undurchschaubaren Regeln funktioniert. Die EU wird zunehmend auch für nachteilige Folgen der Globalisierung verantwortlich gemacht. Die Krise kann zur Chance werden, wenn das europäische Projekt grundsätzlich überdacht wird. Rückbesinnung auf die wesentlichen Ziele sowie transparente und demokratischere Verfahren könnten seine Akzeptanz mittelfristig vielleicht wieder stärken.

Kontakt:
Prof. Dr. Franz Knipping
Telefon 0202/439-2422, -2424
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Prof. Dr.
Hans J. Lietzmann
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Prof. Dr. Hans J. Lietzmann ist Politikwissenschaftler; die Verfassungspolitik in der EU gehört zu seinen Schwerpunkten, ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms "Regieren in der EU" gefördertes Projekt zu dieser Thematik wurde kürzlich erst abgeschlossen. Sein Statement: Die Ablehnung folgt einem nachvollziehbaren demokratischen Impuls; sie schüttet zugleich aber das Kind mit dem Bade aus. So haben sich diejenigen, die - eher nationalistisch gestimmt - auf "weniger Europa" hoffen, mit denjenigen verbündet, die auf ein „mehr demokratisches Europa“ hoffen. Beide Positionen sind nach-vollziehbare Reaktionen auf eine introvertierte, rein ökonomisch-funktionalistische Politik. Soziale, kulturelle und alltagspraktische Hoffnungen und Erwartungen bleiben unberücksichtigt. Diese sind aber das Salz demokratisch verantworteter Politik!

Der Effekt dieses demokratischen Impulses der Wähler ist allerdings fatal: Er wirft den politischen Prozess auf die Regelungen des Vertrages von Nizza zurück. Dieser ist ein besonders misslungenes Beispiel der aus dem Ruder gelaufenen Politik der europäischen Staats- und Regierungschefs; gerade um solche politischen Entwicklungen zu korrigieren, war der Verfassungskonvent (gegen die Intention der Regierungschefs) gebildet und ein Verfassungsvertrag ausgearbeitet worden.

Der Effekt dieses demokratischen Impulses der Wähler ist fatal: Er wirft den politischen Prozess auf die Regelungen des Vertrages von Nizza zurück. So nachvollziehbar also der demokratische Impuls der Wähler, so sehr wendet er sich gegen deren eigene Intention und verschlechtert die Ausgangslage weiterer Versuche, zu einer demokratischeren europäischen Union zu gelangen.

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